Menschen demonstrieren gegen die iranische Regierung, die den iranischen Rapper Toomaj Salehi, der 2022 eine der lautesten Stimmen der Protestbewegung war, zum Tode verurteilte.
Menschen demonstrieren gegen die iranische Regierung, die den iranischen Rapper Toomaj Salehi, der 2022 eine der lautesten Stimmen der Protestbewegung war, zum Tode verurteilte.
IMAGO/ZUMA Wire

In einem Videovortrag auf Youtube mit dem Titel "What Israelis Should Know about Iranians" vertritt der iranische Islamwissenschafter Mehdi Khalaji im Jahr 2016 eine provokante These. Seit dem Sieg der Islamischen Revolution, so Khalaji, werde die iranische Gesellschaft nicht zuletzt im Bildungs- und im Erziehungssystem mit antiisraelischer und antiamerikanischer Propaganda überflutet. Während die antiamerikanische Propaganda aber keineswegs erfolgreich gewesen sei – der überwiegende Teil der iranischen Bevölkerung habe ein positives Bild von den Vereinigten Staaten und großes Interesse an Produkten der amerikanischen Populärkultur –, könnte dies von der Propaganda gegen Israel nicht behauptet werden. Diese sei, Khalaji zufolge, auf durchaus fruchtbaren Boden gefallen. Weshalb keineswegs ausgemacht sei,dass nach einem allfälligen Regimewechsel ein demokratisch verfasster Iran Israel gegenüber eine freundliche Haltung einnehmen werde. Bei der Begründung dieser Theseverweist Khalaji zunächst auf traditionelle, religiös motivierte judenfeindliche Tendenzen in der iranischen Gesellschaft.

Tiefenschicht des Antisemitismus

Tatsächlich muss der weitverbreiteten Behauptung, Muslime und Juden hätten vor dem Einbruch der Moderne in islamisch beherrschten Gesellschaften – oder laut einer Variante dieses Gerüchts vor der Gründung des Staates Israel – harmonisch zusammengelebt, entschieden widersprochen werden. Juden galten und gelten in islamisch geprägten Gesellschaften als Menschen zweiter Klasse, die weder vor Diskriminierung noch vor Anfeindungennoch auch vor Verfolgung verschont blieben.

70 Jahre nach der Niederschrift des Koran, in dem sich, so der Islamwissenschafter Abdel-Hakim Ourghi in einem Zeitungsartikel ("Muslime werden dazu erzogen, Juden zu hassen", Frankfurter Rundschau, 6. 1. 2019), "die Tiefenschicht des Antisemitismus islamischer Prägung" findet,–und Jahrhunderte vor der Einführung der ersten Judenzeichen im christlichen Europa – wurden diejüdischen Untertanen des Umayyaden-Kalifen Omar II. im Jahre 717 zum Tragen gelber Gürtel verpflichtet. Auf europäischem Boden fanden die ersten antijüdischen Pogrome 1011 im islamisch beherrschten Córdoba und 1066 im islamisch beherrschten Granada statt, wo der Mob den jüdischen Minister Joseph ibn-Nagrila zusammen mit 4000 anderen Juden massakrierte. Dreißig Jahre zuvor hatten muslimische Berber im nordafrikanischen Fès über 6000 Juden massakriert, ihre Häuser geplündert und ihre Frauen versklavt.

Die Liste der Verfolgungen, Diskriminierungen und Beschränkungen, denen Juden in islamisch geprägten Gesellschaften ausgesetzt waren, ließe sich freilich fortsetzen.

Situation im späten 19. Jahrhundert

So schreibt der britische Staatsmann und Reiseschriftsteller George Nathaniel Curzon in seinem Buch Persia and the Persian Question (1892) über die Situation der Juden im Iran des späten 19. Jahrhunderts: "Gewöhnlich sind sie gezwungen, in einem Ghetto oder einem separaten Viertel der Städte zu leben, und haben seit jeher unter Behinderungen in Bezug auf Beruf, Kleidung und Gewohnheiten gelitten, die sie von ihren Mitmenschen als sozial Ausgestoßene abgegrenzt haben. Die Mehrheit der Juden in Persien übt (...) Berufe aus, denen keine große Achtung entgegengebracht wird. Nur selten erreichen sie eine führende kaufmännische Position. Sobald es in Persien zu einem Ausbruch von Bigotterie kommt (...), sind die Juden die ersten Opfer" (Übersetzt mit DeepL.com).

Während die traditionelle christliche Theologie Juden als "Gottesmörder" betrachtet, könnte die traditionelle Position islamisch geprägter Gesellschaften gegenüber Juden – folgen wir dem Historiker Bernard Lewis (Juden in der islamischen Welt, C. H. Beck 2004) – als eine der "Verachtung" bezeichnet werden. Verachtung kann allerdings, wann immer sich deren Objekt nicht mehr als verachtungswürdig und schwach, sondern als stark oder gar überlegen wahrgenommen wird, in – mitunter mörderischen – Hass umschlagen. So geschehen 1066, als der jüdische Minister des muslimischen Berberkönigs Badis ibn Habus in Granada gekreuzigt wurde. Und so geschehen in Israel am 7. Oktober 2023.

Seine These, wonach die antiisraelische Propaganda des iranischen Regimes auf fruchtbaren Boden gefallen sei, begründet Khalaji aber auch mit der dominanten Position des "linken Paradigmas" unter iranischen Intellektuellen vor der Islamischen Revolution 1979. "Die Linke hat aus vielen Gründen ihre eigene Version einer antiisraelischen Haltung – und der Kampf gegen den Imperialismus und all diese linken Werte bringen es mit sich, dass sie auch gegen Israel kämpfen muss. (...) Das geht zurück bis in die Zeit vor der Iranischen Revolution. Viele iranische Linke gingen sogar in die palästinensischen Gebiete, in PLO-Lager, um eine militärische Ausbildung zu erhalten. (...) In der vorrevolutionären Ära ist die antiisraelische Position der säkularen Linken sogar stärker als die antiisraelische Position vieler Kleriker" (Übersetzt mit DeepL.com).

Linker Antizionismus

Über den linken und den islamischen Antizionismus hinaus existiert aber noch eine dritte potenzielle Quelle antisemitischer Einstellungen in der iranischen Gesellschaft: Sayyid Qutb, der bedeutendste Theoretiker der Muslimbrüder, dessen Werke in den 1970er-Jahren von Ali Khamenei, dem späteren Obersten Führer der Islamischen Republik, ins Persische übersetzt worden sind, bezeichnet in seinem Korankommentar Im Schatten des Koran die Juden als geheime Macht sowohl hinter dem Kapitalismus als auch hinter dem Kommunismus.

Eine verwirrend paradoxe Zuschreibung, die wir bemerkenswerterweise auch in den Fantasien moderner Antisemiten finden: "Der moderne Antisemitismus", schreibt Moishe Postone in seinem Aufsatz Nationalismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, "ist dadurch gekennzeichnet, dass die Juden für die geheime Kraft hinter (...) dem plutokratischen Kapitalismus und dem Sozialismus gehalten werden."

Während "moderate Islamisten", so der Historiker Abbas Milani auf Youtube ("From Sayyad Qutb to Seyyed Khamenei: The Islamist Challenge of Modernity", 2017), bestrebt seien, judenfeindliche Passagen des Koran mit dem Verweis auf kriegerische Auseinandersetzungen Mohammads mit bestimmten jüdischen Stämmen historisch zu kontextualisieren und zu relativieren, macht Qutb ebendiese Passagen zur Grundlage eines radikalen Antisemitismus. Wo immer er aber auch nur den geringsten Abstrich von seiner Judenfeindschaft zu machen scheint, würde ihn sein persischer Übersetzer, Ali Khamenei, in einer Fußnote korrigieren– um einem noch kompromissloseren Antisemitismus das Wort zu reden.

Ideologische Quellen

Trotz dieser minimalen ideologischen – und den gewichtigeren theologischen – Differenzen zwischen dem Sunniten Sayyid Qutb und dem Schiiten Ali Khamenei war und ist Qutb für das Denken und das politische Handeln des Letzteren prägend. Wir sollten daher – den Einfluss Khameneis auf die Anhänger der Islamischen Republik bedenkend – das von Qutb und Khamenei vertretene Amalgam aus Elementen des modernen Antisemitismus und der traditionell-islamischen Judenfeindschaft – als Drittes – zu jenen von Khalaji identifizierten ideologischen Quellen antisemitischer Einstellungen in der iranischen Gesellschafthinzufügen.

Der Vortrag "What Israelis Should Know about Iranians" wurde 2016 online gestellt. Seither hat der Iran drei landesweite Protestwellen erlebt, bei denen, anders als bei den Massenprotesten nach den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2009, offen die Abschaffung der Islamischen Republik gefordert wurde – und deren dritte, ausgelöst durch den Tod der iranischen Kurdin Jina Amini nach ihrer Festnahme durch die islamische Sittenpolizei im September 2022, sich zur größten Protestwelle seit der Gründung der Islamischen Republik ausweitete und vielfach als "Feministische Revolution" bezeichnet wird.

Brutal niedergeschlagene Proteste

Auch wenn manch einem die Bezeichnung "Revolution", zumal aus akademischer Sicht, kritikwürdig scheint, haben wir es ohne Zweifel mit einer Revolution des Bewusstseins zu tun. Das zeigt sich etwa darin, dass Frauen ohne Kopftuch mittlerweile zum alltäglichen Straßenbild von Teheran und anderer Städte des Landes gehören, während es vor September 2022 als Sensation galt, in der Öffentlichkeit einer Frau ohne Kopftuch zu begegnen. Das Regime hat die brutal niedergeschlagenen Proteste übrigens noch nicht verdaut. Ende April wurde der Rapper Toomaj Salehi, die Stimme der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung, nach monatelanger Haft zum Tode verurteilt.

Der Kopftuchzwang bildet zusammen mit der Todfeindschaft gegen Israel den ideologischen Kern des Regimes – und eine Islamische Republik ohne Kopftuchzwang scheint genauso wenig vorstellbar wie eine Islamische Republik, die das Existenzrecht Israels anerkennt. Kann es aber sein, dass die iranische Gesellschaft, respektive große Teile derselben, seit der Feministischen Revolution nicht nur den Kopftuchzwang ablehnt, sondern auch die Feindschaft des Regimes gegen Israel, wenn auch vermutlich in verschiedenem Ausmaß?

Sama Maani, geb. 1963, wuchs in Österreich, Deutschland und dem Iran auf. Er lebt als Schriftsteller und Psychoanalytiker in Wien. Zuletzt erschienen von ihm "Warum uns der Iran nicht wurscht sein sollte – und Sigmund Freud und Robert Musil auch nicht" (Drava) und der Roman "Žižek in Teheran" (Drava, 2021), der auf fiktiver Ebene eine "feministische Revolution" thematisiert, die dann Realität wurde.
privat

In einer Ende November 2023 ausgestrahlten Talkshow wies Sadegh Zibakalam – systemtreuer, den sogenannten Reformern in der Islamischen Republik nahestehender Politikwissenschafter – darauf hin, das es zwar in mehreren westlichen Großstädten, auch in den Vereinigten Staaten, Massendemonstrationen gegen "das Vorgehen Israels im Gazastreifen" gegeben habe, die Islamische Republik aber, zu deren Gründungsprinzipien die Todfeindschaft gegen Israel gehöre, in Teheran mit seinen 14 Millionen Einwohnern gerade einmal zehntausend Anhänger mobilisieren konnte, um ihre Solidarität mit der Hamas zu bekunden.

Bei dieser Demo, spottete Zibakalam, habe es mehr Palästina-Flaggen als Demonstranten gegeben. Woran Zibakalam, als er "Palästina-Flaggen" sagte, vermutlich dachte, ist das Video einer Szene im Endspiel des iranischen Super-Pokals am 8. Oktober 2023, das im Iran viral ging. Sogenannte Basiji, Angehörige der Schlägertruppe des Regimes, waren mit Palästina-Flaggen gekommen, woraufhin sich die Mehrheit im Fußballstadion erhob undskandierte: "Schiebt euch die Palästina-Flaggen hinten rein!"

Signifikanter Wandel

Wenn wir annehmen, dass Khalajis Urteil über antiisraelische Tendenzen im Iran zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Vortrags zumindest partiell zutraf, dann scheint sich die iranische Gesellschaft seither signifikant gewandelt zu haben. Neben dem Versagen des Regimes, durch inszenierten Jubel über das Massaker vom 7. Oktober den Anschein zu erwecken, es gäbe im Iran eine breite Solidarität mit der Hamas, sei als weiterer Hinweis auf die Emanzipation der iranischen Gesellschaft vom Israel-Hass des Regimes ein Fernsehbericht der VOA Farsi erwähnt, in dem Iranerinnen und Iraner zu ihrer Sicht auf den Krieg zwischen Israel und der Hamas befragt werden.

Ein auf die das Hamas-Massaker feiernden "Kuchenverteiler" Angesprochener meint etwa: "Das war eine inszenierte Show des Regimes und seiner bezahlten Parteigänger – und hat mit uns nichts zu tun." "Diejenigen, die Kuchen verteilen und sich über die Ermordung von Menschen freuen", sekundierteine Iranerin, "sind die Anhänger jener Islamischen Republik, die mit ihrer eigenen Bevölkerung genauso verfährt wie die Hamas mit der Bevölkerung Israels und die bei den Protesten im November 2019 1500 Menschen ermordet hat. Die Islamische Republik steht für eine Ideologie des Todes." Und: "Hinter dem Terrorismus der Hamas", sagt eine andere Iranerin in einem Youtube-Video, "steckt das Terrorregime der Islamischen Republik Iran."

Bekenntnisse

Die vielfältigen Gründe für die Zunahme israelfreundlicher Haltungen in der iranischen Gesellschaft zu analysieren – bei denen wohl die Logik "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" eine Rolle spielt – würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Ein in diesem Zusammenhang wesentlicher, aber selten erwähnter Faktor sei dennoch benannt. Bedenkt man die Rolle der traditionell-religiösen Judenfeindschaft als Quelle antiisraelischer Tendenzen im islamisch geprägten Teil der iranischen Gesellschaft, verdient eine von der niederländischen Universität Tilburg durchgeführte repräsentative Umfragebesondere Beachtung, bei der sich 70 Prozent der 40.000 befragten Iranerinnen und Iraner nicht zum schiitischen Islam, der ideologischen Grundlage der Islamischen Republik, bekannten (60 Prozent gaben an, überhaupt keine Muslime zu sein).

Die erwähnte Studie wurde im Jahr 2020 veröffentlicht. Der folgende im Iran beliebte Witz ist wesentlich älter. Ein Mann geht im Fastenmonat Ramadan ein Sandwich essend durch eine Straße in Teheran. Fragt ein irritierter anderer Passant: "Sie gehören wohl zu einer religiösen Minderheit?" "Nicht zur religiösen Minderheit", korrigiert ihn der Mann mit dem Sandwich, "zur nichtreligiösen Mehrheit." (Sama Maani, 4.5.2024)